Sylvia Schön und Maria Eisenreich genießen ihren beruflichen Ruhestand. Und sie haben – neben spannenden und entspannenden Hobbys – eine Gelegenheit, ihre Freizeit sinnvoll zu nutzen: Zweimal pro Woche lassen sie sich von Volksschulkindern vorlesen. Was auf den ersten Blick nach einer unspektakulären Aufgabe klingt, hat einen gesellschaftlich enorm wichtigen Hintergrund: Lesen ist ein integraler Teil unseres Bildungssystems und Lesepat:innen wie Sylvia Schön und Maria Eisenreich helfen mit, die Chancengleichheit aller Kinder zu fördern.
Die Zeit sinnvoll nutzen
Maria Eisenreich hat vor ihrer Pensionierung mehr als 20 Jahre lang in einem Universitätslehrgang „Deutsch für Ausländer“ vermittelt. „Das war allerdings mit jungen Erwachsenen“, sagt die frühere Lehrerin, die bereits „gute zehn Jahre als Lesepatin“ arbeitet: „Ich habe immer gern unterrichtet. Für eine Vollzeit-Beschäftigung hätte ich nicht mehr die nötige Energie. Aber als Lesepatin bin ich fünf Stunden pro Woche im Einsatz und das macht mir sehr viel Spaß.“
Zumal sie für ihren freiwilligen und unentgeltlichen Einsatz reichlich belohnt wird: „Es kommt von den Kindern so viel Energie zurück, so viel Begeisterung!“ Dass ihr die regelmäßigen Besuche in zwei verschiedenen Volksschulen in der Nähe ihrer Wohnung helfen, ihre Woche zu strukturieren, ist ein weiterer Pluspunkt: „Ich wollte nie das Gefühl haben, dass ich meine Zeit vertrödle und am Abend nicht weiß, was ich tagsüber eigentlich gemacht habe. Jetzt weiß ich, dass ich mit meinem Engagement Kindern die Freude am Lesen vermittle.“
Leseratte lehrt lesen
Sylvia Schön war beruflich zuletzt mehr als 20 Jahre in der Pharmaindustrie tätig; als „rechte Hand des Forschungschefs“ war ihr Aufgabenfeld ebenso umfangreich wie verantwortungsvoll: „Als absehbar wurde, dass ich in Ruhestand gehen würde, habe ich mich schon nach einer Beschäftigung umgesehen, in der ich meine Zeit sinnvoll nutzen könnte. Ich habe ein bisschen im Internet recherchiert, und weil ich immer schon gern mit Kindern gespielt habe, hat mich die Tätigkeit einer Lesepatin rasch angesprochen.“
Seit sechs Jahren engagiert sich Sylvia Schön als Freiwillige beim Roten Kreuz: „Ich bin ja selbst eine echte Leseratte. Für mich ist es faszinierend zu beobachten, wie gern sich die Kinder dieser Aufgabe stellen. Kaum bin ich in der Schule, kommen sie schon auf mich zugelaufen und rufen: ‚Sylvia, darf ich dir heute vorlesen?‘“
„Omi geht ins Haus“
Lesepat:innen begleiten „ihre Kinder“ in der Regel von der ersten bis zur vierten Klasse Volksschule. Wobei sie manchmal tatsächlich ganz am Anfang beginnen, wie Sylvia Schön erklärt: „In der ersten Klasse müssen die Kinder oft noch lernen, wie sie ihre Zunge und ihre Lippen bewegen müssen, um nicht nur einzelne Laute zu formen, sondern diese Laute dann auch zu verbinden.“ Bis zu den Weihnachtsferien stellen deshalb Verbindungen wie „ma“, „me“ oder „mi“ noch große Herausforderungen dar – „und danach können sie bald so Paradesätze wie ‚Omi geht ins Haus‘ lesen. Das ist ein schöner Erfolg für sie.“
Das Lesen gilt in unserer Gesellschaft als wichtiges Kulturgut; es ist Voraussetzung für den Erwerb von Bildung und einer gleichberechtigten Teilhabe am Alltagsleben. Für Maria Eisenreich – die „Lese-Maria“, wie sie von den Kindern genannt wird – ist das Lesen aber auch noch aus einem anderen Grund so wichtig: „Lesen eröffnet dir so viele großartige Möglichkeiten. Lesen ebnet dir den Weg in die Welt der Bücher, in die Welt der Geschichten.“
Schwindeln gilt nicht
Lesepatinnen und Lesepaten nehmen im Normalfall vor dem Klassenzimmer Platz. Während des regulären Unterrichts dürfen maximal drei Kinder für jeweils rund zehn Minuten zu ihnen auf den Gang kommen und selbst aus jenen Büchern oder Lernbehelfen vorlesen, die ihre Lehrkraft für sie – passend zum laufenden Schulstoff – ausgewählt hat. „Das hat mich am Anfang überrascht“, gibt Sylvia Schön zu. „Ich habe ursprünglich nämlich gedacht, dass ich den Kindern vorlesen soll. Aber natürlich ist es viel sinnvoller, wenn sie mir vorlesen. Sie sollen das Lesen ja erlernen.“
Nachdem die Kinder – speziell die etwas geübteren in den dritten und vierten Klassen – ihre Texte vorgelesen haben, verwickelt Sylvia Schön ihre Schützlinge geschickt in kleine Gespräche: „Ich möchte ja wissen, ob sie auch verstanden haben, was sie da vorgelesen haben. Und wenn ich merke, dass sie Wörter zwar richtig gelesen haben, aber nicht wissen, was sie bedeuten, dann sprechen wir über dieses Wort, damit sie beim nächsten Mal besser wissen, worum es eigentlich geht.“
Bei Volksschulkindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, greift Sylvia Schön hin und wieder zu einem technischen Hilfsmittel: „Gerade bei diesen Kindern muss ich besonders achtsam sein. Ich merke schon während des Lesens, dass sie mich bei gewissen Wörtern fragend ansehen. Wenn sie meine Erklärung danach noch immer nicht verstehen, zeige ich ihnen am Handy ein dazu passendes Bild.“