Wir sind da Ö Österreich

"Neue Sorgekultur nötig"

Interview mit Monika Wild im Magazin "Mein Rotes Kreuz" Ausgabe Nr. 1, März 2021

Monika Wild beim Interview
Monika Wild. Fotocredit: ÖRK/Gianmaria Gava

Pflegeexpertin Monika Wild geht in Pension. Im Abschiedsinterview erklärt sie, woran es in der Pflege hakt und welche Reformen es bräuchte.

 

Können Sie sich noch an Ihren ersten Patienten erinnern?

Ich kann mich an die ersten Praktika während der Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung 1980 erinnern. Zuerst war ich auf der Kinderchirurgie. Da hat mich eine Lehrerin vier Wochen lang begleitet und eingeschult. Dann war ich in einem steirischen Landesspital. Um 9 Uhr hat das Team immer gefrühstückt. Da hat meine Glocke geläutet. Ich wollte zur Patientin. Die Stationsleiterin hat gesagt: Nein, wir frühstücken jetzt, das müssen sie akzeptieren. Bald kam jemand aus dem Zimmer gelaufen – ich solle schnell kommen. Die Patientin war sterbend. Sie lag mitten im Zimmer. Sie hatte Stuhl gehabt und ihn überall hingeschmiert. Die anderen im Zimmer haben zugesehen. Es war wirklich furchtbar.

Wie hat Sie das geprägt?

Ich war 17 Jahre alt. Damals hab ich mir geschworen: Nie wieder lasse ich mir von jemandem sagen, nicht in ein Zimmer zu gehen. Es hat mich darin bestärkt, dass meine Arbeit wichtig ist, aber dass man sie auch richtig machen muss. Egal welche Regeln es gibt, an erster Stelle steht immer der Patient. 

Hat die Corona-Krise erneut gezeigt, wie wichtig Pflege und Betreuung ist?

Man hat gesehen, was da geleistet wird. Es wird seit Jahrzehnten unterschätzt, was in diesem Beruf gefordert ist.

Woran liegt das?

Die Sorge für andere gibt es auch innerhalb der Familie, daher wird zu wenig gesehen, dass spezifische Fachkompetenzen nötig sind, um jemanden bei der Alltagsbewältigung zu unterstützen. Diese Sorgearbeit wird unterschätzt. Was es noch braucht, in der gehobenen Gesundheits- und Krankenpflege, ist Organisationsarbeit. Das sind Manager. Es braucht auch Leadership, um Teams zu führen, nur dann kann Pflege gut funktionieren.

Hat sich in der Wertschätzung nichts geändert, seit Sie selbst Pflegerin waren?

Wenig. Es ist ein Relikt, dass Tätigkeiten, die Frauen zugeschrieben werden, immer unterschätzt werden. Was mich stört ist, dass wir es als Gesellschaft immer noch nicht geschafft haben, diese Arbeit nach der Leistung und den Kompetenzen, die dafür nötig sind, zu finanzieren, sondern das nach alten Klischees tun.

Wie schafft man das – eine neue Wertschätzung der Pflege?

Dass irgendwer am Balkon steht und klatscht, das braucht keiner. Die Wertschätzung muss sich so ausdrücken, dass ein entsprechender Prozentsatz des Staatsbudgets für Pflege ausgegeben wird. Es bräuchte andere Personalschlüssel, eine bessere Work-Life-Balance für die Pflegenden, damit die Sorgearbeit genügend Raum bekommt, bessere Rahmenbedingungen – sonst arbeitet man nur sein Pensum ab und ist wieder weg.

Die Rezepte, wie die Pflege reformiert werden soll, liegen seit Jahrzehnten in der Schublade. Warum ist es so schwer ins Tun zu kommen?

Die Experten haben schon 2000 gewusst, was 2020, 2030 auf uns zukommen wird – die Zahl der zu Pflegenden steigt und es gibt viel zu wenig Personal. Aber damals hat es noch halbwegs funktioniert. Da sind die Frauen noch mit 55 in Person gegangen und konnten zuhause ihre Angehörigen betreuen. Jetzt steigt der Druck durch die Bevölkerung und die Politik hat das Thema verstärkt aufgenommen.

Muss in Österreich etwas passieren, bis etwas passiert?

Ich sehe keine mutige Politik, echt nicht. Es wird an kleinen Stellschrauben gedreht. Den Pflege-Regress abzuschaffen war leider genau die verkehrte Entscheidung. Man hat die andere Säule nicht bedient. Die Leute wollen, wenn es irgendwie geht, zu Hause bleiben. Wir müssen die Pflege zu Hause stärken und leistbare Angebote ausweiten. Ich glaube es braucht künftig auch eine Art Pflegenotfalldienst, der gerufen werden kann, wenn zuhause etwas akut ist.

Muss der Staat mehr Aufgaben übernehmen?

In Österreich ist Pflege eine Aufgabe der Familie und der Staat unterstützt. Bei uns ist die Erwartungshaltung, dass das die Familie macht, die kriegt dafür ein bisserl Geld – aber es gibt keinen Rechtsanspruch auf Sachleistungen. Das wird in 20 Jahren nicht mehr gehen, das geht zum Teil jetzt schon nicht mehr, weil die Familien so nicht mehr da sind. Es gibt die Leute nicht mehr, die diese Aufgabe übernehmen können. Da braucht es mehr Sachleistungen.

Was ist hier von der Pflegreform zu erwarten?

Ich wünsche mir wirklich, dass etwas Gescheites rauskommt, aber die Kompetenzen des Bundes sind begrenzt. Das Thema Sachleistungen zum Beispiel kann die Reform aufgrund der Kompetenztrennung zwischen Bund und Ländern gar nicht aufgreifen.

Sitzen Sie dann da und verzweifeln?

Nein. Ich bin gelernte Österreicherin und mittlerweile auch sehr pragmatisch. Wenn es vor der Reform heißt, an diesen Kompetenzen soll nichts geändert werden, weiß ich, was zu erwarten ist. Meine Erwartungshaltung ist schon angepasst, zwischen dem was möglich wäre und dem was kommen kann.

Wie sollte denn die Pflege idealerweise aussehen, in 20 Jahren?

Es gibt mehr Dienstleistungen, die nach Hause kommen. Es gibt mehr präventive Angebote um die Phase der Pflegebedürftigkeit nach hinten zu verschieben, damit ich statt 15 nur mehr 3 Jahre Unterstützung brauche. Es gibt Angebote, die mehr auf Rehabilitation und Remobilisierung setzen – da sind wir schwach. Dazu muss der soziale Zusammenhalt neu überdacht werden, dass es nicht mehr so auf die Kernfamilie ankommt, sondern in Richtung Nachbarschaftshilfe geht. Wir müssen das Für- und Miteinander der Leute stärken, die in einer Gemeinschaft zusammenleben.

Ist das schaffbar? Was wenn nicht?

Ich glaube schon, dass es schaffbar ist. Wenn wir es nicht schaffen muss jede Unterstützungsleistung durch einen Professionisten erbracht werden. Das würde das Budget für die Langzeitpflege stark in die Höhe schnellen lassen. Wir reden dann von etwa 12 Prozent des BIP für Pflege, derzeit sind es drei.

Hat nicht die Corona-Zeit gezeigt, wie schwer sich die Leute damit tun, Verantwortung für andere zu übernehmen?

Umso wichtiger wäre es Maßnahmen zu setzten, um eine neue Sorgekultur zu schaffen, mehr Aktivitäten zu setzen, damit die Menschen miteinander in Kontakt kommen. Wenn das gelingt, unterstützten sie sich gegenseitig. Das ist dann auch ein Hebel gegen Einsamkeit. Es gibt dir das Gefühl, dass du wichtig bist. Es macht einen Sinn, wenn man helfen kann.

Ist es der falsche Zeitpunkt in Pension zu gehen, jetzt, wo die Dinge in Bewegung kommen?

Was soll ich darauf sagen (lacht). Nein. Ich kann nicht so lange warten, bis es eine gescheite Pflegereform gibt, da wäre ich 75, bis ich in Pension gehen kann.

Wie sehen Sie dem entgegen, dass Sie auch einmal pflegebedürftig sein könnten?

Neugierig. Ich denke oft nach, welche Form der Unterstützung ich brauchen werde. Ist es ein Schlaganfall… wird es die Demenz sein. Ich gehe sehenden Auges hinein und werde immer um Hilfe fragen, wenn ich sie brauche. Ich hoffe, dass die Unterstützungen gut ausgebaut sein werden, wenn es soweit ist. Nicht dass es heißt: nimm dir eine 24h-Betreuung. Ich will mit keiner anderen Person zusammenleben, da geh ich vorher ins Pflegeheim. Ich will so lange wie möglich zuhause bleiben, sonst ist es mit der Freiheit vorbei.

Fast hätte ich gefragt, was Ihnen lieber wäre – ein Schlaganfall oder die Demenz.

Kommt darauf an, beim Schlaganfall, wo die Beeinträchtigung ist. Im Sprachzentrum, eine Schluckstörung: das ist ein Käse. Eine kleine Halbseitenlähmung, mit der komme ich zurecht. Ja, sicher.

Also lieber ein Schlaganfall?

Die Phase, wo du merkst, dass du es hast, die klaren und die nicht klaren Momente, das ist schwer. Ich weiß es nicht. Eine der besten Präventionen gegen Demenz und Vergesslichkeit ist Walken. Nachdem ich immer walke habe ich keine Angst vergesslich zu werden.

Wie sieht die Bilanz aus, worauf sind Sie stolz?

Stolz bin ich, dass ich immer gerne arbeiten gegangen bin. Dass es mir Freude gemacht hat. Was gelungen ist, sollen andere beurteilen. Die Pflegedienste im Roten Kreuz, die es, wie ich anfing gar nicht überall gab, sind stark ausgebaut worden. Fachlich und in der Qualitätssicherung haben wir mit den Landesverbänden sicher viel auf die Beine gestellt.

Und es werden ja 2021 noch zwei Rotkreuz-Zentren gebaut, die Pflege in ihrem Sinne ganzheitlich behandeln werden.

Diese integrierten Pflegeberatungsstellen werden Anlaufstellen in der Region sein. Wenn ich eine Frage zum Thema Pflege und Betreuung habe, kann ich da hingehen. Es gibt Angebote im Bereich Prävention, zu Demenz, Workshops zur Sturzprävention, Gedächtnistrainingsseminare. Es werden professionelle und freiwillige Dienst vermittelt, wie der Besuchs- und Begleitdienst. Pflege sollte nicht nur im Sinne der Versorgung gesehen werden, sondern auch als therapeutisches Angebot.

Und das soll Schule machen?

Ja, genau. Wir sind sehr froh, dass die EU das zahlt.

Zur Person

Monika Wild ist eine gefragte Lektorin, Vortragende und Expertin im Bereich Pflege. 1993-2020 war sie Leiterin der Pflege und Betreuung im Roten Kreuz, davor selbst Pflegerin.

Autor: Stefan Müller

wir sind da

Redaktion

Mein Rotes Kreuz - das Magazin des Roten Kreuzes

Österreichisches Rotes Kreuz

Wiedner Hauptstraße 32
1040 Wien

+43 1 58 900 350
redaktion@roteskreuz.at
Sie sind hier: