RNA in einer Fetthülle, mit Spike-Proteinen gespickt, 120 bis 160 Nanometer groß. Wer hätte gedacht, dass ein so winziges Ding so großen Schaden anrichten kann. Innerhalb von Wochen hat das Corona-Virus die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mühelos in die Knie gezwungen. Das Rote Kreuz, das bereit steht um Behörden bei großen Katastrophen zu unterstützen, hat geholfen, den Schaden in Grenzen zu halten und die Menschen zu schützen. Das entspricht genau seiner Aufgabe. Es ist aber eine Illusion zu glauben, dass wir zur Normalität zurückzukehren können, sobald die Impfung Wirkung zeigt. Zu groß ist der Schaden. Zu viele Menschen sind gestorben. Wenn Gesundheit für alle das Ziel für die Zukunft sein soll, braucht es ein Comeback mit mehr Verantwortung. Keine Rückkehr zur Normalität, sondern einen Neustart.
Helfen, ohne Eigennutz. Seit seiner Gründung 1864 hilft das Rote Kreuz unabhängig und neutral ohne zu fragen. Zu Beginn im Krieg, später auch in Friedenszeiten. „Der Feind, unser wahrer Feind, ist nicht die Nachbarnation; es sind Hunger, Kälte, Armut, Unwissenheit, Gewohnheit, Aberglaube und Vorurteile“, wusste schon Henry Dunant, der Schweizer Gründer der Hilfsorganisation. Der Handlungsreisende vergaß die Geschäfte, seinen Profit und den Eigennutz, als er die fast 40.000 Toten, Sterbenden und Verstümmelten sah, die im Juni 1859 auf dem Schlachtfeld von Solferino zurückblieben. Zahlreiche Freiwillige, die meisten Frauen, halfen aufopfernd, die Verletzten zu versorgen.
Heute hat das Corona-Virus ganze Landstriche heimgesucht und mehr als drei Millionen Menschenleben gefordert, in Österreich waren es über 9.600. Die tüchtigen Ärztinnen und Ärzte standen dabei an vorderster Front. Das Rote Kreuz urteilt nicht darüber, was gut und was schlecht gelaufen ist. Es soll sich jeder selbst ein Bild davon machen, wie gut Österreich abgeschnitten hat. Ist es der Politik gelungen auf die Wissenschaft zu hören und das Gemeinwohl über das Parteiwohl zu stellen? Hat jeder selbst es geschafft, auch an andere zu denken und den Eigennutz im ausreichenden Maße zurückzustellen? Und wenn Nein, sind das Symptome eines gesellschaftlichen Zustands?
Wir brauchen ein modernes Solferino. Ich danke dem Gesundheitspersonal, das Großes geleistet hat. Ich bin stolz auf die tausenden Freiwilligen, die unzählige wertvolle Stunden im Einsatz waren und danke auch Ihnen. Sie haben uns vor Augen geführt, dass es einer wichtigen Komponente bedarf, um mit Pandemien fertig zu werden: Verantwortung für andere zu übernehmen, weil davon Leben abhängen können. Das muss aber jede Person selbst tun. Wir brauchen nicht nur Schutzausrüstung, Impfungen, neue Medikamente, besser bezahltes Pflegepersonal und neue Notfallpläne, um für die Seuchen der Zukunft gewappnet zu sein. Wir brauchen mehr Menschen, die nicht nur an sich selbst denken. Vielleicht kann die Corona-Krise in dieser Hinsicht ein modernes Solferino werden, ein Weckruf zur rechten Zeit.
Nun wird es darauf ankommen, welche Lehren wir aus Corona ziehen. Dunant hätte sich vor 162 Jahren auch anders entscheiden können. Als er das Blut sah und die Soldaten schreien hörte, unterzeichnete er rasch die Verträge mit Napoleon III., zog die Vorhänge seiner Kutsche zu und fuhr davon. Das hat er nicht getan. Wir sollten es ihm gleichtun. Bleiben wir stehen, sehen wir hin, ohne Aberglaube und Vorurteile. Ziehen wir die richtigen Schlüsse. Schützen wir das Leben der Schwachen und Kranken. Alles andere könnte uns am Ende selbst gefährden. Gesundheit für alle sollte ab jetzt eine Priorität sein. Sie ist das wichtigste für das Wohlergehen unserer Gemeinden und Gesellschaften.
Dieser Kommentar ist als Gastkommentar in der Ärztezeitung erschienen.