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Tödlicher Grenzschutz

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex setzt im Mittelmeer auf Flugzeuge zur Überwachung statt auf Rettungsschiffe. Geflüchtete werden ihrem Schicksal überlassen oder zurückgedrängt. Wie eng die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache ist, zeigt folgende Recherche des Südwind-Magazins.

Ausschnitt einer Reportage von Vera Deleja-Hotko, Ann Esswein, Bartholomäus von Laffert und Daniela Sala, erschienen im Südwind-Magazin.

Am Beginn der Überfahrt verspürt er keine Angst. Im Gegenteil: Samuel Abrahm ist glücklich. „Libyen ist schlimmer als das Meer“, denkt er. Da weiß er noch nicht, dass nicht alle diese Fahrt im Jahr 2020 überleben werden. Um Mitternacht legt Abrahm mit 62 weiteren Menschen in einem überfüllten Schlauchboot von der libyschen Küstenstadt Garabulli ab. Auch Kinder sind an Bord, eines erst wenige Tage alt. Kaum jemand trägt eine Rettungsweste. „Wir dachten nicht, dass diese Reise so lange dauern würde”, sagt er ein Jahr später, im April 2021, gegenüber dem Südwind-Magazin. „Deshalb, und um Platz zu sparen, hatten wir nur wenig zu essen und zu trinken dabei.“ Bereits am ersten Tag seien die Vorräte knapp gewesen, am zweiten bereits aufgebraucht. Aus Durst und Verzweiflung hätten sie begonnen, Meerwasser zu trinken. Dann entdeckt Abrahm ein Flugzeug, das über ihrem Boot kreist. Es werde Hilfe holen, geht es dem jungen Mann durch den Kopf. Doch das Flugzeug wird ihn und die anderen nicht retten.

Von oben überwacht. Abrahm, der ursprünglich aus Eritrea kommt, ist einer von über 53.000 Menschen, die laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im vergangenen Jahr versucht haben, über das zentrale Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Knapp ein Drittel von ihnen ist 2020 an der Überfahrt aus Nordafrika in Richtung Europa gescheitert. Und die kleine, viersitzige Propellermaschine, die über den Schiffbrüchigen kreiste, hat damit zu tun. Ein halbes Jahr haben wir, ein Team von Reporter*innen, Flugdaten und Videos gesammelt. Wir recherchierten vor Ort in Lampedusa und arbeiteten mit Open Source Intelligence (OSINT), also frei verfügbaren, offenen Quellen, ebenso mit internen Dokumenten der EU und von Hilfsorganisationen wie SeaWatch und Alarmphone, die sich für Seenotrettung von Geflüchteten einsetzen. So konnten wir Fälle wie jenen von Abrahm, der eigentlich anders heißt und dem wir zu seinem Schutz vor Repression in Libyen diesen Namen gegeben haben, rekonstruieren. Zusätzlich haben wir über Kontakte und Social Media versucht, Überlebende ausfindig zu machen, um ihre Geschichten zu dokumentieren. Abrahms Geschichte ist auch die einer neuen Taktik der EU, der Mitgliedstaaten am zentralen Mittelmeer und von Frontex, der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache: Sie wollen Menschen, die versuchen, von der afrikanischen Küste über das Meer nach Europa zu gelangen, davon abhalten. Seit 2016 reduzieren Frontex und die EU-Küstenstaaten die Zahl ihrer Schiffe im Mittelmeer. Sie ersetzen die Überwachung auf dem Wasser mit jener aus der Luft. Seit 2018 kreisen meist drei Propellermaschinen mit dem Namen Osprey 1, Osprey 3 und Eagle 1 über dem Wasser. Sie halten Ausschau nach Menschen in Seenot, um deren Position an die zuständigen Seenotleitstellen weiterzugeben.

Friedhof auf der italienischen Insel Lampedusa: Tausende Geflüchtete kommen jedes Jahr im Mittelmeer ums Leben
Friedhof auf der italienischen Insel Lampedusa: Tausende Geflüchtete kommen jedes Jahr im Mittelmeer ums Leben
Auf dem Schiffsfriedhof in Lampedusa stapeln sich Relikte einer Überfahrt.
Tor Europas und Mahnmal für das Wegschauen: Auf dem Schiffsfriedhof in Lampedusa stapeln sich Relikte einer Überfahrt

Unterlassene Hilfeleistung. „Das Benzin war schon lange aus. Es waren die Wellen, die uns in irgendeine Richtung trugen“, erzählt Abrahm. Es ist der 13. April 2020, der dritte Tag für ihn auf hoher See. Wiederholte Male kreiste ein Flugzeug über ihren Köpfen. Mal sei es ganz nah über ihnen geflogen, mal weiter weg, sagt der junge Eritreer. Zudem zeigen offen zugängliche Flugdaten, dass sich ein Frontex-Flugzeug an diesem Tag in der Nähe befunden haben muss. Eigentlich gilt auf hoher See ein einfaches Gesetz: Jeder Mensch, der in Seenot gerät, muss gerettet werden. Das ist im Seevölkerrecht festgehalten. Zuständig dafür sind Schiffe in dessen unmittelbarer Nähe, also auch Handelsschiffe oder Frachter.

In der Nacht des vierten Tages taucht ein Frachtschiff neben ihrem Boot auf. „Drei Personen sprangen ins Wasser und versuchten, zu dem Schiff zu schwimmen”, erinnert er sich. „Sie wollten bei dem Frachter um Benzin bitten. Doch die Wellen wurde immer höher. Wir haben sie danach nicht mehr gesehen.” Auch hier kreiste laut Open-Source-Flugdaten ein Flieger über ihnen. Am Morgen des fünften Tages werden die Überlebenden von einem vermeintlichen Fischerboot aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht. Laut Recherchen der New York Times soll es sich dabei um ein Boot gehandelt haben, das von der maltesischen Küstenwache angeheuert wurde, um im Auftrag von Malta die Flüchtenden nach Libyen zurückzubringen. Zwölf Menschen sterben bei dieser versuchten Überfahrt. Weil sie ins Meer springen, um zu einem Frachter zu schwimmen. Weil sie die Situation nicht mehr aushalten und aus Verzweiflung ins Meer springen. Und weil sie auf dem Fischerboot nicht ausreichend Versorgung erhalten haben.

Illegales Zurückdrängen. „Einen heimlichen Pushback“, wird die Initiative Alarm Phone das wenige Tage später nennen. Ein Zurückdrängen von Menschen aus europäischen Gewässern ohne rechtliche Grundlage. Heimlich deshalb, weil dies nicht direkt von europäischen Behörden ausgeführt worden sei. Durch den Einsatz von Flugzeugen anstatt Schiffen hat sich Frontex eine legale Grauzone geschaffen. Davon geht die Rechtswissenschaftlerin Violeta Moreno-Lax von der Queen Mary University in London aus: „Der Vorteil von Drohnen und Flugzeugen statt Schiffen ist, dass man am Ende immer noch sagen kann, man habe das Boot nicht gesehen oder nicht auf dem Radar gehabt.” Und somit entziehe man sich der Verantwortung. Denn: Zeitgleich mit dem schrittweisen Abzug der Rettungsschiffe vertiefen die EU und ihre Mitgliedsstaaten ihre Beziehung mit Libyen, einem Bürgerkriegsland ohne einheitliche Regierung und ohne funktionierenden Rechtsstaat. „Es ist ein Land, das die Genfer Menschenrechtskonvention nie unterschrieben hat“, hält die Innsbrucker Politikwissenschaftlerin Julia Mourão Permoser in einem Blogeintrag in der Zeitung Der Standard fest. Ein Land, in dem Menschen willkürlich inhaftiert und gefoltert werden, wie Berichte von Menschenrechtsorganisationen belegen. „Beinahe jede Frau in einem libyschen Flüchtlingslager wird Opfer sexueller Gewalt“, schreibt Mourão Permoser. Vor drei Jahren wurde mit Unterstützung der EU und ihren Mitgliedstaaten eine eigene Seenotrettungszone für Libyen eingerichtet (vgl. Interview dazu). Zuvor hatte Italien im libyschen Gebiet die Überwachungs- und Rettungsverantwortung übernommen.

Einfach wegschauen. Die Geschichte von Abrahm ist bei weitem kein Einzelfall. Es ist nur ein Fall, über den später ein Überlebender berichten kann.
 

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