Unterlassene Hilfeleistung. „Das Benzin war schon lange aus. Es waren die Wellen, die uns in irgendeine Richtung trugen“, erzählt Abrahm. Es ist der 13. April 2020, der dritte Tag für ihn auf hoher See. Wiederholte Male kreiste ein Flugzeug über ihren Köpfen. Mal sei es ganz nah über ihnen geflogen, mal weiter weg, sagt der junge Eritreer. Zudem zeigen offen zugängliche Flugdaten, dass sich ein Frontex-Flugzeug an diesem Tag in der Nähe befunden haben muss. Eigentlich gilt auf hoher See ein einfaches Gesetz: Jeder Mensch, der in Seenot gerät, muss gerettet werden. Das ist im Seevölkerrecht festgehalten. Zuständig dafür sind Schiffe in dessen unmittelbarer Nähe, also auch Handelsschiffe oder Frachter.
In der Nacht des vierten Tages taucht ein Frachtschiff neben ihrem Boot auf. „Drei Personen sprangen ins Wasser und versuchten, zu dem Schiff zu schwimmen”, erinnert er sich. „Sie wollten bei dem Frachter um Benzin bitten. Doch die Wellen wurde immer höher. Wir haben sie danach nicht mehr gesehen.” Auch hier kreiste laut Open-Source-Flugdaten ein Flieger über ihnen. Am Morgen des fünften Tages werden die Überlebenden von einem vermeintlichen Fischerboot aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht. Laut Recherchen der New York Times soll es sich dabei um ein Boot gehandelt haben, das von der maltesischen Küstenwache angeheuert wurde, um im Auftrag von Malta die Flüchtenden nach Libyen zurückzubringen. Zwölf Menschen sterben bei dieser versuchten Überfahrt. Weil sie ins Meer springen, um zu einem Frachter zu schwimmen. Weil sie die Situation nicht mehr aushalten und aus Verzweiflung ins Meer springen. Und weil sie auf dem Fischerboot nicht ausreichend Versorgung erhalten haben.
Illegales Zurückdrängen. „Einen heimlichen Pushback“, wird die Initiative Alarm Phone das wenige Tage später nennen. Ein Zurückdrängen von Menschen aus europäischen Gewässern ohne rechtliche Grundlage. Heimlich deshalb, weil dies nicht direkt von europäischen Behörden ausgeführt worden sei. Durch den Einsatz von Flugzeugen anstatt Schiffen hat sich Frontex eine legale Grauzone geschaffen. Davon geht die Rechtswissenschaftlerin Violeta Moreno-Lax von der Queen Mary University in London aus: „Der Vorteil von Drohnen und Flugzeugen statt Schiffen ist, dass man am Ende immer noch sagen kann, man habe das Boot nicht gesehen oder nicht auf dem Radar gehabt.” Und somit entziehe man sich der Verantwortung. Denn: Zeitgleich mit dem schrittweisen Abzug der Rettungsschiffe vertiefen die EU und ihre Mitgliedsstaaten ihre Beziehung mit Libyen, einem Bürgerkriegsland ohne einheitliche Regierung und ohne funktionierenden Rechtsstaat. „Es ist ein Land, das die Genfer Menschenrechtskonvention nie unterschrieben hat“, hält die Innsbrucker Politikwissenschaftlerin Julia Mourão Permoser in einem Blogeintrag in der Zeitung Der Standard fest. Ein Land, in dem Menschen willkürlich inhaftiert und gefoltert werden, wie Berichte von Menschenrechtsorganisationen belegen. „Beinahe jede Frau in einem libyschen Flüchtlingslager wird Opfer sexueller Gewalt“, schreibt Mourão Permoser. Vor drei Jahren wurde mit Unterstützung der EU und ihren Mitgliedstaaten eine eigene Seenotrettungszone für Libyen eingerichtet (vgl. Interview dazu). Zuvor hatte Italien im libyschen Gebiet die Überwachungs- und Rettungsverantwortung übernommen.
Einfach wegschauen. Die Geschichte von Abrahm ist bei weitem kein Einzelfall. Es ist nur ein Fall, über den später ein Überlebender berichten kann.