Natürlich ist auch die medizinische Versorgung größtenteils zusammengebrochen. Man versucht, die Versorgung mit mobilen medizinischen Stützpunkten und Feldspitälern wie jenem des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Rafah aufrechtzuerhalten: „In diesem Krankenhaus gibt es 60 stationäre Betten, funktionstüchtige Operationssäle und sogar eine Geburtenstation, in der seit dem Mai 2024 bereits 357 Kinder zur Welt gebracht wurden. Das Österreichische Rote Kreuz unterstützt das IKRK-Feldspital mit einer Trinkwasseraufbereitungsanlage.“
Wie stark gerade Kinder vom bewaffneten Konflikt betroffen sind, belegt eine Statistik des IKRK: „Unsere Kolleginnen und Kollegen haben in vergangenen zehn Monaten rund 2.700 Operationen durchgeführt, und knapp 30 Prozent davon an Kindern unter 14 Jahren. Besonders erschreckend ist für mich aber eine andere Zahl: Seit Beginn der Kampfhandlungen verlieren in Gaza im Schnitt zehn Kinder pro Tag Gliedmaßen.“
Was das für die Zukunft der Kinder in Gaza bedeutet? „Kein Kind kann diesem Überlebenskampf, den die Familien Tag für Tag führen müssen, unbeschadet entkommen. Wir stehen vor einer unheimlich herausfordernden Situation – insbesondere, was die psychische Gesundheit betrifft. Das gilt natürlich für alle Menschen. Aber Kinder trifft es umso härter, weil sie nicht über solche Bewältigungsstrategien verfügen, die Erwachsene in solchen Krisen vielleicht entwickeln.“
Es gäbe einen immensen Bedarf an psychosozialer und psychologischer Betreuung“, sagt Jürgen Högl, „die unter den aktuellen Bedingungen nicht zu stillen ist“. Dazu kommen unermessliche Folgeprobleme, die in solchen Krisensituationen zwangsweise auftreten: „Wir haben ja nicht nur unterernährte Kinder, sondern auch schwangere Frauen. Wir wissen, dass deren Kinder ihr Leben lang unter den Folgen der Mangelernährung der werdenden Mütter leiden werden.“
Ein weiteres Drama bildet das strenge Ausreiseverbot aus Gaza: „Aktuell stehen 12.000 Menschen auf der Liste der Patientinnen und Patienten, die dringend aus Gaza hinaus müssten, um medizinisch versorgt zu werden – darunter viele krebskranke Kinder.“ Positiv ist zu erwähnen, dass am Grenzübergang Rafah im Süden Gazas täglich immerhin bis zu 50 Personen evakuiert werden dürfen, um in Ägypten oder anderswo im Ausland medizinische Versorgung zu bekommen: „Kinder werden zwar in der Regel von einer erwachsenen Person begleitet. Allerdings dürfen sie nach der Behandlung nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren.“

Gaza: Kein Kind entkommt der Situation unbeschadet
Der Nahost-Konflikt sorgt für unvorstellbares Leid. Jürgen Högl ist als Einsatzkoordinator für das IFRC (Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften) in Ägypten stationiert und berichtet von den neuesten Entwicklungen in Gaza. Die aktuelle Lage ist untragbar – aber der Funke der Hoffnung leuchtet ein wenig heller als noch vor wenigen Monaten.
Seit Oktober 2023 tobt in Gaza ein unerbittlicher Konflikt. Rund 1,9 Millionen Menschen, etwa 90 Prozent der Bevölkerung, wurden aus ihren Häusern vertrieben. Doch aktuell sind den humanitären Helferinnen und Helferinnen die Hände gebunden: „Wir können weder die notwendigen Hilfsgüter noch genügend internationales Personal hineinbringen“, sagt Jürgen Högl. „Wir stellen aber unsere Expertise auf beiden Seiten der Grenze zur Verfügung, um den Palästinensischen Roten Halbmond in Gaza zu unterstützen und so die dringend benötigte Hilfe sicherzustellen.“
Alle Systeme sind zusammengebrochen
Jürgen Högl ist seit Mitte Jänner 2025 als österreichischer Delegierter im Auftrag der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) in Ägypten unterwegs. Als „Operations Coordinator“ ist der gebürtige Niederösterreicher in zwei humanitäre Einsätze eingebunden: „Im Süden Ägyptens versuchen wir, die grundlegendsten Bedürfnisse von 1,2 Millionen Vertriebenen aus dem Sudan zu erfüllen.“
Im Norden des Landes liegt der Fokus auf der humanitären Krise in Gaza. Seit Beginn des bewaffneten Konflikts am 7. Oktober 2023 lebt die Bevölkerung unter Bedingungen, die Jürgen Högl als „schlicht unerträglich“ bezeichnet. Zur Erklärung greift er zu einem Vergleich mit Österreich: „Stell dir vor, dass zwei Millionen Menschen – also eine Bevölkerung wie in Wien – auf einer Fläche von der Größe Eisenstadts leben müssen.“
Das alles aber unter unvorstellbaren Vorzeichen: „Die Wasserversorgung ist zusammengebrochen. Die Abwasserentsorgung ist ebenso zusammengebrochen wie die Müllentsorgung. Beide Mülldeponien, sowohl im Süden als auch im Norden Gazas, befinden sich in sogenannten ‚Puffer-‘ und „No-Go-Zonen‘ und können deshalb nicht benutzt werden.“
Eigentlich, sagt Jürgen Högl, ist das gesamte System längst zum Erliegen gekommen, die gesamte kritische Infrastruktur ist zusammengebrochen. Für Kinder und Jugendliche bedeutet es nicht zuletzt, dass ihre Bildung massiv leidet: „Seit dem 7. Oktober 2023 ist in Gaza kein Kind mehr in eine Schule gegangen, seit Anfang März 2025 wird aber immerhin ein rudimentärer Schulbetrieb, oft in einem Drei-Schicht-Betrieb, organisiert. Schätzungen zufolge sind jedoch fast 90 Prozent aller Schulgebäude schwer beschädigt oder zerstört.“
Kein Kind entkommt unbeschadet


Ein Leben im Schutt

Ein weiteres sehr ernstes Problem waren zuletzt die niedrigen Temperaturen – vor allem in Verbindung mit einer anderen Folge des Krieges: „70 Prozent des Wohnraums in Gaza sind bereits zerstört. Insgesamt liegen im Gaza unvorstellbare 50 Millionen Tonnen Schutz herum“, sagt Jürgen Högl. „Die Menschen leben buchstäblich in diesem Schutt. Wenn sie wenigstens in Zelten leben könnten, wäre schon viel gewonnen. Aber sehr viele Menschen wohnen in Bretterverschlägen oder unter Plastikplanen, die vielleicht mit den Hilfslieferungen als Verpackungsmaterialien hereingekommen sind.“
Die Folgen sind fatal: „Im Gegensatz zu unserer romantischen Vorstellung ist es im Nahen Osten nicht immer so schön warm wie im Sommerurlaub in Ägypten. Tatsächlich hat im Februar eine polare Kaltfront die Region erreicht, im Libanon gab es sogar in tiefen Lagen Schneestürme. Und in Gaza sind sechs Kinder erfroren“, sagt Jürgen Högl. „Seit Beginn der Auseinandersetzungen sind damit mehr als 100 Kinder erfroren. Für uns ist diese Situation absolut untragbar.“
„Hört auf, auf uns zu schießen!“
Vor seinem Einsatz in Ägypten war der erfahrene Krisen- und Katastrophenmanager unter anderem auf den Philippinen, im Libanon und der Ukraine aktiv. Dort, so erzählt er, hat ihn der gewaltsame Tod eines ukrainischen Mitarbeiters tief erschüttert. In Gaza, sagt er, ist die Lage aber wesentlich schlimmer: „Im Laufe dieses Konflikts sind bereits 22 Mitglieder des Palästinensischen Roten Halbmonds ums Leben gekommen. Seit Beginn des Konflikts am 7. Oktober 2023 haben wir aber auch auf israelischer Seite sechs Kolleginnen und Kollegen verloren, die humanitäre Hilfe geleistet haben.“
Deshalb richtet Jürgen Högl einen eindringlichen Appell an alle Konfliktparteien: „Hört auf, auf uns zu schießen! Hört auf, auf die Leute zu schießen, die Verletzte bergen und versuchen, anderen Menschen zu helfen!“ Und natürlich hofft er auf einen anhaltenden Waffenstillstand und in weiterer Folge auf einen Friedensschluss: „Es braucht so bald wie möglich einen Friedensbeschluss, die bedingungslose und würdevolle Freilassung aller Geiseln sowie einen ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe.“
In den ersten sechs Wochen seines Aufenthalts in Ägypten hat Jürgen Högl aber auch sehr viel Positives erlebt: „Am 19. Jänner sind in Erez, Zikim und Kerem Shalom – beziehungsweise Karem Abu Salem, wie es auf Arabisch heißt – immerhin drei Grenzübergänge nach Gaza geöffnet worden. Pro Woche durften im Schnitt 4.200 LKW mit lebensnotwendigen Gütern ins Krisengebiet fahren.“
Ein Funken Hoffnung

Seit 2. März sind die Grenzen wieder geschlossen, die Situation kann sich aber jederzeit ändern. Jürgen Högl bleibt deshalb positiv motiviert: „Wir haben in Al-Arish, südlich von Gaza, Lagerhäuser mit einer Fläche von rund 100.000 Quadratmeter aufgebaut, 1.500 freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ägyptischen Roten Halbmonds (ERCS) sind im Schichtbetrieb rund um die Uhr im Einsatz. Wir nutzen die Zeit, um unsere Lagerhäuser erneut mit den notwendigsten Gütern zu füllen. Wir müssen in der Lage sein, sofort zu helfen, sobald die Grenzen geöffnet werden.“
Mit großer Freude erinnert er sich an den 19. Jänner, den Tag des jüngsten Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas: „Dieser Tag war ein Wendepunkt, ein echter Gamechanger. Wir selbst dürfen ja leider nicht nach Gaza hinein. Aber stehen mit unseren Kolleginnen und Kollegen vom palästinensischen Roten Halbmond täglich via Internet in Kontakt. Nach Wochen und Monaten ohne Lichtblicke haben wir endlich Zuversicht in den Gesichtern gesehen“, sagt Jürgen Högl. Und genau diesen positiven Spirit will er in die nächsten Wochen mitnehmen: „Der Funken der Hoffnung war schon fast erloschen. Jetzt leuchtet er ein bisschen heller.“
Seit Beginn des Konfliktes mahnt das Rote Kreuz immer wieder zur Einhaltung des Humanitären Völkerrechts:
- Die bedingungslose Freilassung aller Geiseln
- Ungehinderten, sicheren Zugang für humanitäre Hilfe
- Schutz humanitärer Helfer:innen, des Gesundheitspersonals und von Gesundheitseinrichtungen
- Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Infrastruktur