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Gaza: Kinder brauchen Zukunftsperspektiven

Kinder sind in umkämpften Regionen wie dem Gaza nicht nur körperlichen, sondern auch psychischen Gefahren ausgeliefert. Gesundheitspsychologin Barbara Juen erklärt im zweiten Teil unserer Geschichte, wie sich der traumatisierende Alltag auf Kinder in Krisengebieten auswirkt

Der Begriff Resilienz hat seinen Ursprung im lateinischen Wort „resilire“, das man mit abspringen oder zurückprallen übersetzen kann. In der Psychologie beschreibt Resilienz die Eigenschaft, mit der Menschen auf Probleme reagieren und sich an neue Situationen anpassen. In Krisen und Katastrophen kommt dieser Fähigkeit eine besondere Bedeutung zu – und zwar nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern


Psychologie und Krisenintervention
Die Innsbrucker Universitäts-Professorin Barbara Juen ist fachliche Leiterin der Psychosozialen Dienste im Österreichischen Roten Kreuz. Als Gesundheitspsychologin ist sie auf Notfallpsychologie und Krisenintervention spezialisiert und weiß, wie man traumatisierten Kindern am besten helfen kann. „Es gibt einen wichtigen Spruch von meiner amerikanischen Kollegin Ann Masten, die sich intensiv mit dem Thema Resilienz auseinandergesetzt hat: ‚Wenn Kinder außergewöhnliche Situationen erleben, dann brauchen sie nicht das Außergewöhnliche als Unterstützung – sondern das Gewöhnliche.“
Natürlich ist das in einer so hart umkämpften Region wie dem Gaza eine große Herausforderung, weiß Barbara Juen, die selbst unter anderem bereits in Indien und Indonesien im Katastropheneinsatz war. „Es ist wichtig, dass man versucht, mit ihren Bezugspersonen wieder eine Art von strukturiertem Alltag, von Normalität, von Vorhersehbarkeit herzustellen.“ Hilfreich ist dabei ein Ort, der in der Fachsprache „child friendly space“, also „kinderfreundlicher Raum“, genannt wird: „Das muss kein richtiges Gebäude sein. Es reicht oft schon, dass Kinder in Feuerpausen irgendwo auf der Straße beginnen können, irgendein Spiel zu spielen.“
 

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Kinderfreundliche Räume
Aus psychologischer Sicht geht es in diesen kinderfreundlichen Räumen um fünf Faktoren, sagt Barbara Juen: Sicherheit; Verbundenheit mit Gleichaltrigen, aber auch Erwachsenen und damit eine Verbesserung der Beziehung zu Bezugspersonen; Ruhe und den Versuch, Normalität und Alltagsstrukturen zu ermöglichen; Selbstwirksamkeit durch die Möglichkeit, mit kleinen Entscheidungen dem Gefühl der Hilflosigkeit zu begegnen; und letztendlich um Hoffnung und das positive Gefühl, eine Zukunftsperspektive zu haben.
Wie Simona Mencinger im ersten Teil unserer Geschichte bereits   erkannt hat, verfügen Kinder – anders als üblicherweise Erwachsene – über die natürliche Fähigkeit, ganz im Moment zu leben. „Von außen betrachtet“, sagt Barbara Juen, „befinden sich die Menschen im Gazastreifen ununterbrochen in extremer Lebensgefahr. In der Realität gibt es aber zwischendurch winzigkleine Inseln einer relativen Ruhe. Und Kinder können solche Momente im Normalfall sofort in Anspruch nehmen und ein bisschen durchatmen und vielleicht sogar zu spielen beginnen. Es kann aber passieren, dass ein Kind diese Fähigkeit verliert.“
Von entscheidender Bedeutung sind für die Kinder Bezugspersonen; meist sind das Eltern oder andere Verwandte, es können aber auch Geschwister oder andere Kinder sein, sagt Barbara Juen: „Weil traumatisierte Erwachsene für Kinder häufig nicht mehr zugänglich sind, investieren wir in Krisengebieten immer sehr viel in die Unterstützung von Bezugspersonen.“ Denn deren Verhalten beeinflusst das Verhalten und die Gefühle der Kinder maßgeblich. „Wir sprechen vom ‚Erwachsenenschutzschild‘: Wenn Erwachsene halbwegs die Ruhe bewahren, ist das für Kinder ein unglaublicher Schutz.“ 

Auf Fragen ehrlich eingehen
Gerade im Fall von Luftangriffen, bei denen Erwachsene verständlicherweise selbst um ihr Überleben fürchten, ist diese Ruhe allerdings schwer zu bewahren, weiß Barbara Juen. „Es heißt ja nicht, dass Bezugspersonen keine Angst haben dürfen. Im Gegenteil. Aber dann ist es notwendig, mit dem Kind ehrlich über diese Angst und vielleicht auch diese Wut, diese Ohnmacht zu sprechen. Einen Teil seiner Emotionen mit dem Kind zu teilen, ist wichtig. Sonst denkt das Kind, dass seine eigenen Gefühle abnormal sind.“
Wichtig ist aber, Kinder nicht mit Informationen und den eigenen Emotionen zu überschwemmen, sagt Barbara Juen: „Wir lassen uns in der Krisenintervention von den Fragen der Kinder leiten. Am besten ist es, offen und ehrlich auf ihre Fragen einzugehen.“ Wenn man selbst keine Antworten hat, darf man sich ruhig trauen zuzugeben, dass man etwas nicht weiß – etwa, wann denn der nächste Luftangriff kommt: „Das ist besser, als zu schweigen. Wenn Kinder gar keine Informationen bekommen, führt das zu einer noch größeren Hilflosigkeit als bei den Erwachsenen.“
 

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Es braucht Zukunftsperspektiven
Abhängig von grundlegenden individuellen Faktoren wie Persönlichkeitseigenschaften (dazu zählt das Temperament) und angelernten Fähigkeiten wie einem Grundvertrauen in andere Menschen, Problemlösungskompetenz, Affektregulierung und Selbstwertgefühl, entwickeln Kinder eine überraschend große Resilienz, sagt Barbara Juen. 
Ob und wie gut oder wie schnell sich Kinder aber von dramatischen Ereignissen wie aktuell im Gazastreifen erholen, lässt sich nicht allgemeingültig beantworten: „Das hängt davon ab, was ein Kind erlebt hat. Viele Kinder werden sicher therapeutische Unterstützung benötigen, um ihre Erfahrungen bewältigen zu können“, sagt Barbara Juen. „Alle Menschen, auch die Kinder, brauchen aber unbedingt irgendeine Form von Handlungsfähigkeit. Und Voraussetzung dafür ist eine Art von Zukunftsperspektive. Eine Perspektive, die über das tägliche Überleben hinausgeht.“ 
 

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