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Busunfall mit Verletzten - Übungsszenario mit Rotem Kreuz und Feuerwehr

Hilfe für Hilfskräfte

SvE - das steht für Stressverarbeitung nach Ereignissen. Nach psychisch belastenden Ereignissen, um genau zu sein. Dieses System hat das Österreichische Rote Kreuz unter Leitung von Univ.-Prof. Dr. Barbara Juen implementiert, um seine eigenen Einsatzkräfte bestmöglich zu unterstützen. 

Die Arbeit für das Rote Kreuz ist sinnstiftend und erfüllend – und in unserer Gesellschaft unersetzlich. Doch immer wieder gehen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an ihre eigenen physischen und psychischen Grenzen – und das nicht nur bei Einsätzen in internationalen Krisengebieten oder nach regionalen Katastrophen wie zuletzt nach den massiven Überschwemmungen in Ostösterreich. Singuläre Ereignisse im Alltag von Ersthelfer:innen können ebenfalls traumatische Folgen zeigen. Damit auch denen geholfen wird, die normalerweise anderen helfen, hat das Österreichische Rote Kreuz ein System entwickelt, wie sein eigenes Personal mit psychischem Stress umgehen kann. 

Reaktion auf Lawinenkatastrophe 

Die Tirolerin Barbara Juen forscht und lehrt seit 1989 an der Universität Innsbruck; ihre Schwerpunkte liegen bei den Themen Entwicklungspsychologie, Psychotraumatologie und Akutinterventionen nach Notfällen und Katastrophen. Beim Österreichischen Roten Kreuz fungiert die Psychologin als fachliche Leiterin der Psychosozialen Dienste. Wie wichtig eine Nachbetreuung nach belastenden Ereignissen ist, wurde Barbara Juen bereits in den 1990er-Jahren bewusst: „Wir waren eine Gruppe von vier Psychologinnen an der Uni Innsbruck, und eine Fluglinie ist damals mit der Bitte an uns herangetreten, ein Care-Team für sie aufzubauen. Sie durften nur noch in die USA fliegen, wenn sie so ein Team hatten, das im Fall eines Unglücks die Hinterbliebenen betreut hätte.“ 

Dass sie so ein Kriseninterventionsteam auch für das Rote Kreuz aufzubauen begann, lag an ihren eigenen Erfahrungen nach der Lawine-Katastrophe in der kleinen Tiroler Gemeinde Galtür: Im Februar 1999 verschüttete eine Reihe von Lawinen Dutzende Menschen; nach schwierigen Bergungsmaßnahmen im hinteren Paznauntal waren insgesamt 38 Todesopfer zu beklagen: „Ich bin damals vom Roten Kreuz als externe Psychologin hinzugezogen worden. Bald danach haben wir begonnen, ein neues System zur gezielten Unterstützung der eigenen Einsatzkräfte aufzubauen.“ 

Psychosoziale Notversorgung

Vier Rotkreuz-Mitarbeitende sprechen miteinander
Portraitfoto Barbara Juen, fachliche Leiterin Psychosoziale Dienste ÖRK
Dr. Barbara Juen, fachliche Leiterin Psychosoziale Dienste ÖRK (Sve-Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen, KI – Krisenintervention)

SvE heißt dieses System. Und die Abkürzung erklärt bereits, was es erreichen soll: Stressverarbeitung nach belastenden Ereignissen. Grundlage dafür sind die Erkenntnisse des amerikanischen Psychologen Jeffrey T. Mitchell, der schon in den 1970er- und 1980er-Jahren wertvolle Beobachtungen gesammelt hat, sagt Barbara Juen: „Er war selbst als Rettungssanitäter im Einsatz und hat erlebt, wie belastend manche der Unfälle waren. Und er hat erkannt, wie groß die Hemmschwelle ist, danach selbst professionelle psychologische Hilfe zu suchen.“ 

Deshalb entwickelte er eine Methode zur psychosozialen Notfallversorgung, die Barbara Juen vor mittlerweile 25 Jahren auch in Österreich zu implementieren begann: „Ich habe deshalb selbst begonnen, mich beim Roten Kreuz zu engagieren und in Uniform an Einsätzen teilzunehmen. Das SvE-System beruht nämlich auf der Erkenntnis, dass sich Hilfskräfte nach psychisch herausfordernden Ereignissen lieber an Kolleginnen und Kollegen wenden – weil sich die aus eigener Erfahrung richtig in die Situation hineinversetzen können.“ 

Sinnstiftende Alternative 

Zur Anwendung kommt dieses Prinzip nach traumatischen oder belastenden Erlebnissen bei Einsätzen, wie aktuell nach den schweren Überschwemmungen in Ostösterreich im Herbst 2024. „Die wichtigste Unterstützung kommt immer von Kolleg:innen, die alle Abläufe, alle Routinen, alle Herausforderungen kennen. Ein Psychologe oder eine Psychologin können den Stress nämlich nicht nachvollziehen, dem zum Beispiel Sanitäterinnen und Sanitäter ausgesetzt sind.“ 

Deshalb werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch in den Prinzipien der psychischen Ersten Hilfe geschult, sagt Barbara Juen: „Wir folgen damit Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO, die aus drei Punkten besteht: Look, Listen, Link.“ Look, listen, link, also „Schauen, zuhören, verbinden“ lässt sich in etwa in drei Stufen in die Praxis übersetzen: „Es beginnt damit, dass ich im Einsatz erkenne: Hoppala, mit meinem Kollegen, mit meiner Kollegin stimmt etwas nicht.“ 

Um das zu erkennen, ist natürlich Einfühlungsvermögen notwendig. „Denn genau wie nach schweren Unfällen braucht oft nicht derjenige am dringendsten Hilfe, der am lautesten schreit. Es kann sein, dass jemand plötzlich ganz still wird und erstarrt“, sagt Barbara Juen: „Deshalb müssen wir Reaktionen erkennen können, die über eine ‚normale‘ Stressreaktion hinausgehen.“ 

Wichtig ist es dann – und das ist mit dem WHO-Schlagwort „listen“ gemeint – bedürfnisorientiert die richtigen Maßnahmen zu ergreifen: „Ich muss entscheiden, wie ich in diesem Moment am besten helfen kann.“ Und dabei ist der entscheidende Faktor, der betroffenen Person wieder Handlungsfähigkeit zu geben: „Wenn ich erkenne, dass zum Beispiel ein Zivildiener zu einem schweren Unfall gerufen wird und vor Schreck erstarrt, dann schicke ihn nicht nach Hause – denn dann würde er in der kompletten Hilflosigkeit landen. Was ich aber tun kann: Ich spreche mich mit anderen Kolleg:innen ab, um mich für den Moment vom Einsatzgeschehen freizuspielen. Und dann gehe ich mit dem Zivildiener zum Beispiel zum Rettungsauto und sage: ‚Setz dich bitte hinein und hör mir den Funk ab‘. Damit ist er einerseits geschützt und hat andererseits wieder eine sinnstiftende Aufgabe.“ 

Zwei Mitarbeiterinnen der Krisenintervention des Roten Kreuzes

On-Scene-Support 

Die dritte Stufe – der „Link“ – wird erst nach einer gewissen Zeit erklommen: „So ein Gespräch kann man nicht direkt nach einem Einsatz führen. Aber wenn es notwendig ist, kann sich danach das ganze Team zusammensetzen und die Vorgänge intern durchbesprechen. Wichtig ist aber, dass unser angesprochener Zivildiener mit geschulten Kolleginnen oder Kollegen reden kann. Er muss wissen, dass er keinen Fehler gemacht hat.“ 

Ergänzt wird die SeV-Methode speziell bei Auslandeinsätzen durch ein sogenanntes „Peer“-System. Ähnlich wie beim Tauchen oder anderen Sportarten, bei denen Freunde oder Kolleg:innen aufeinander achtgeben, gibt es auch beim Österreichischen Roten Kreuz das Prinzip, gerade in schwierigen Zeiten füreinander da zu sein: „Wenn jemand auf Auslandseinsatz ist, dann wird ihm ein Kollege oder eine Kollegin zur Verfügung gestellt, der bei Bedarf zum Reden bereit steht.“ 

Das geht so weit, sagt Barbara Juen, dass bei besonders herausfordernden Projekten ein sogenannter „On-Scene-Support“ angeboten wird. Zum Beispiel bei WASH-Einsätzen, bei denen sich Expert:innen des Roten Kreuz in Krisen- und Katastrophengebieten um die Versorgung mit Trinkwasser und andere notwendige Hygienemaßnahmen kümmern: „Wir schicken speziell ausgebildete Leute mit, die aber nicht nur für psychosoziale Hilfe vorgesehen sind. Sie übernehmen Aufgaben im Team, um als gleichwertig akzeptiert zu werden.“ 

Nach dem verheerenden Tsunami im Indischen Ozean 2004, erinnert Barbara Juen, war das ein Mitarbeiter, „der nicht direkt an den Leichen gearbeitet, sondern Daten in den Computer eingegeben hat. Er durfte natürlich nicht selbst an ‚vorderster Front‘ arbeiten, weil er die Kraft haben musste, notfalls seine Kolleg:innen zu unterstützen.“ Die aktive Teilnahme am Einsatz hat einen psychologischen Nebeneffekt, sagt Barbara Juen: „Das sorgt dafür, dass die Hemmschwelle sinkt. Müsste ich mit jemandem sprechen, der nur zur psychologischen Hilfe vor Ort ist, müsste ich mich ja quasi outen, dass ich Hilfe brauche. So kann ich mich einfach mit einem anderen Teammitglied über meine Probleme unterhalten …“ 

Zurück in die Normalität 

In Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Roten Kreuzes – auch für diesen Blog – hört man immer wieder vom Glück, das sie empfinden, wenn sie nach Auslandseinsätzen in Krisen- und Katastrophengebieten nach Hause zurückkehren können. Nicht zuletzt, weil sie – anders als lokale Kräfte – im wahrsten Sinne des Wortes eine Grenze überschreiten und das Land, die Region verlassen können. Und weil sie zu Hause in Österreich im Rahmen eines Debriefings, also einer Nachbesprechung des Einsatzes, ihre Erfahrungen aufarbeiten können. 

Dieses Debriefing ist übrigens verpflichtend, sagt Barbara Juen: „Dabei müssen aber keine Psycholog:innen zum Einsatz kommen, meistens sind es Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen, die in der Vergangenheit ähnliche Erfahrungen gemacht haben.“ Wichtig ist es, in diesen Gesprächen den Einsatz zu rekapitulieren, um einen Überblick über das Geschehen zu bekommen: „Man muss ein Gespür für seinen eigenen Anteil am Einsatz bekommen und erkennen, dass die eigene Arbeit wirklich einen Sinn gehabt hat.“ 

Wichtig sind diese Gespräche aber auch, um wieder in die heimische Normalität zurückkehren zu können, sagt Barbara Juen. Und wieder ein Gefühl die Probleme des Alltags zu bekommen: „Ich erinnere mich, wie absurd es für mich nach dem Einsatz in Galtür war: Du arbeitest tagelang, wochenlang in einer absoluten Ausnahmesituation und dann schildert dir ein Student auf der Uni, dass er ein Zeugnis verloren hat und ein Duplikat braucht. Und im ersten Moment denkst du dir: ‚Hast du keine anderen Sorgen‘‘ Du darfst aber nicht übersehen: Für diesen jungen Mann ist das in diesem Moment tatsächlich ein konkretes Problem – auch, wenn es für dich ganz anders gewichtet ist als die Lawinenkatastrophe …“ 

Gerade Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Roten Kreuzes (und ähnlicher Hilfsorganisationen) müssen Strategien entwickeln, wie sie sich wieder in die Strukturen zu Hause einfügen können. „Zum einen“, sagt Barbara Juen, „musst du wieder ‚runterkommen‘. In Katastrophengebieten arbeitest du permanent auf Adrenalin. Dieses Adrenalin musst du abbauen, sonst bist du für deine Mitmenschen daheim unerträglich.“ Zum anderen gilt es, sich wieder an die „Normalität“ zu gewöhnen: „Und das ist gar nicht so einfach. Ich kenne Einsatzkräfte, die sagen: ‚Sobald ich anfange zu überlegen, mir ein neues Schuhkasterl zu kaufen, weiß ich: Ich bin bereit für meinen nächsten Einsatz …‘“ 

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