SvE heißt dieses System. Und die Abkürzung erklärt bereits, was es erreichen soll: Stressverarbeitung nach belastenden Ereignissen. Grundlage dafür sind die Erkenntnisse des amerikanischen Psychologen Jeffrey T. Mitchell, der schon in den 1970er- und 1980er-Jahren wertvolle Beobachtungen gesammelt hat, sagt Barbara Juen: „Er war selbst als Rettungssanitäter im Einsatz und hat erlebt, wie belastend manche der Unfälle waren. Und er hat erkannt, wie groß die Hemmschwelle ist, danach selbst professionelle psychologische Hilfe zu suchen.“
Deshalb entwickelte er eine Methode zur psychosozialen Notfallversorgung, die Barbara Juen vor mittlerweile 25 Jahren auch in Österreich zu implementieren begann: „Ich habe deshalb selbst begonnen, mich beim Roten Kreuz zu engagieren und in Uniform an Einsätzen teilzunehmen. Das SvE-System beruht nämlich auf der Erkenntnis, dass sich Hilfskräfte nach psychisch herausfordernden Ereignissen lieber an Kolleginnen und Kollegen wenden – weil sich die aus eigener Erfahrung richtig in die Situation hineinversetzen können.“
Sinnstiftende Alternative
Zur Anwendung kommt dieses Prinzip nach traumatischen oder belastenden Erlebnissen bei Einsätzen, wie aktuell nach den schweren Überschwemmungen in Ostösterreich im Herbst 2024. „Die wichtigste Unterstützung kommt immer von Kolleg:innen, die alle Abläufe, alle Routinen, alle Herausforderungen kennen. Ein Psychologe oder eine Psychologin können den Stress nämlich nicht nachvollziehen, dem zum Beispiel Sanitäterinnen und Sanitäter ausgesetzt sind.“
Deshalb werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch in den Prinzipien der psychischen Ersten Hilfe geschult, sagt Barbara Juen: „Wir folgen damit Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO, die aus drei Punkten besteht: Look, Listen, Link.“ Look, listen, link, also „Schauen, zuhören, verbinden“ lässt sich in etwa in drei Stufen in die Praxis übersetzen: „Es beginnt damit, dass ich im Einsatz erkenne: Hoppala, mit meinem Kollegen, mit meiner Kollegin stimmt etwas nicht.“
Um das zu erkennen, ist natürlich Einfühlungsvermögen notwendig. „Denn genau wie nach schweren Unfällen braucht oft nicht derjenige am dringendsten Hilfe, der am lautesten schreit. Es kann sein, dass jemand plötzlich ganz still wird und erstarrt“, sagt Barbara Juen: „Deshalb müssen wir Reaktionen erkennen können, die über eine ‚normale‘ Stressreaktion hinausgehen.“
Wichtig ist es dann – und das ist mit dem WHO-Schlagwort „listen“ gemeint – bedürfnisorientiert die richtigen Maßnahmen zu ergreifen: „Ich muss entscheiden, wie ich in diesem Moment am besten helfen kann.“ Und dabei ist der entscheidende Faktor, der betroffenen Person wieder Handlungsfähigkeit zu geben: „Wenn ich erkenne, dass zum Beispiel ein Zivildiener zu einem schweren Unfall gerufen wird und vor Schreck erstarrt, dann schicke ihn nicht nach Hause – denn dann würde er in der kompletten Hilflosigkeit landen. Was ich aber tun kann: Ich spreche mich mit anderen Kolleg:innen ab, um mich für den Moment vom Einsatzgeschehen freizuspielen. Und dann gehe ich mit dem Zivildiener zum Beispiel zum Rettungsauto und sage: ‚Setz dich bitte hinein und hör mir den Funk ab‘. Damit ist er einerseits geschützt und hat andererseits wieder eine sinnstiftende Aufgabe.“