Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Freunde!
In der Hauptversammlung sollen Sie über unsere konkreten Leistungen im abgelaufenen Jahr informiert werden. Diesen Part werden nun anschließend die Herren der Geschäftsleitung übernehmen.
Mit ist es zugedacht, einige übergreifende Gedanken zu präsentieren, die jenen zeitgeistigen Rahmen skizzieren, in dem sich unser Wirken abspielt.
Lassen Sie mich mit der Frage beginnen: Was haben Bangladesch, Ruanda, El Salvador und China miteinander gemeinsam? Nun, zunächst, dass ich diese Länder ziemlich willkürlich ausgewählt habe. Weil sie autoritär regiert werden. Auch wenn es dort Parlamente oder Höchstgerichte gibt, sind sie keine liberalen Demokratien. In Bangladesch regiert Premierministerin Sheik Hasina Wajed mit starker Hand. In Ruanda herrscht Präsident Paul Kagame seit 24 Jahren. In El Salvador wurde Präsident Nayib Bukele, der angeblich „coolste Diktator der Welt“, im Februar wiedergewählt. China brauche ich, glaube ich, nicht näher zu erläutern.
Trotzdem haben diese Länder auch gemeinsam, dass es mit ihnen aufwärts geht. Bangladesch hat in den letzten Jahrzehnten die Kindersterblichkeit von 35 Prozent auf 2,8 Prozent gedrückt. Statt 10 Prozent der Einwohner verfügen heute 99 Prozent über Elektrizität. 75 Prozent der Bevölkerung können lesen und schreiben, zuvor waren es nur 29 Prozent. Ruanda zählt zu den wirtschaftlich am stärksten wachsenden Ländern Afrikas. Die Hauptstadt Kigali ist eine City der Start-Ups. Fast 100 Prozent der Bevölkerung sind krankenversichert. Die Lebenserwartung steigt. El Salvador hatte lange die höchste Mordrate der Welt, heute ist sie auf einem historischen Tiefstand. Ausländische High-Tech-Unternehmen siedeln sich an, Touristen kommen wieder. Zu China nur zwei Sätze: Die Regierung hat für 800 Millionen Menschen ein Leben in Armut beendet. Seine Industrie erobert die Schlüsseltechnologien der Zukunft.
Das alles haben Autokraten geschafft. Es ist gespenstisch. Denn der Aufstieg der Entwicklungs- und Schwellenländer ging hier ohne liberale Demokratie vor sich. Die Gleichung: „Marktwirtschaft + Demokratie = Wohlstand“ scheint längst nicht mehr überall zu gelten. Offenbar funktioniert Marktwirtschaft auch ohne Demokratie.
Sie werden nun mit Recht einwenden: Aber in allen genannten Staaten gibt es massive Menschenrechtsverletzungen, keine Pressefreiheit oder Gewaltenteilung. Die Opposition sitzt im Gefängnis. Man kann wegen geringster Vergehen ohne Prozess hinter Gitter und unter die Folter kommen. Das stimmt.
Als einem Freund der Demokratie muss einem klar sein, dass Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in enger wechselseitiger Verknüpfung zur Demokratie stehen.
Aber die Botschaft der Autokraten an die Mehrheit scheint stärker zu sein. Sie lautet: „Mit uns wird es dir besser gehen. Bei uns bist du in Sicherheit.“
Auch die Stabilität der Demokratie hängt davon ab, wie gut sie es schafft, soziale Sicherheit zu garantieren. Früher war das sozusagen eine ihrer Nebenwirkungen. Heute ist die Demokratie längst nicht mehr die einzige Staatsform, der Menschen das zutrauen.
Dazu kommt eine neue Form der Kommunikation, die diese Botschaft verstärkt. Und zwar direkt am Handy. Die Akademie der Wissenschaften meint: „Wenn Populismus der Schatten der repräsentativen Demokratie ist, dann ist ihm mit den Sozialen Medien ein wirkungsvolles neues Kommunikationsinstrument in die Hand gegeben worden.“ Wie dieses Instrument funktioniert, hat der Psychologe Gustave Le Bon schon im 19. Jahrhundert beschrieben: „Das ständig Wiederholte befestigt sich so sehr in den Köpfen, dass es schließlich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wird.“ Die Algorithmen der Sozialen Medien perfektionieren das: Sie wiederholen und bestätigen ständig nur mehr Wahrheiten, die ohnehin längst in unseren Köpfen befestigt sind.
Deshalb enthält die Botschaft der Akademie auch Hoffnung: Soziale Medien blieben „ein Instrument, das alle nutzen können. Auch jene, die an der Erhaltung der Demokratie interessiert sind.“ Aber eine Online-Initiative zu Bestätigung und Erhalt humanitärer und demokratischer Werte ist leider nicht in Sicht. Wir überlassen es den Populisten. Hier sitzen Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster Institutionen. Vielleicht schaffen wir es ja gemeinsam, eine solche Initiative auf die Beine zu stellen.
Bleibt die Frage: Geht es uns in Europa, in Österreich, wirklich so schlecht, dass wir autoritären Versprechen erliegen müssen? Es geht jedenfalls um den Verlust eines Zukunftsversprechens: Dass es uns und unseren Kindern immer besser gehen wird, das wird nicht mehr für wahr gehalten. Zudem gibt es kaum Antworten auf Probleme, die das Rote Kreuz wahrnimmt. Wir sind gesellschaftlich gut verankert mit unseren über 75.000 freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dazu kommen noch rund 11.000 Hauptberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und über 4.000 Zivildiener und wir erfreuen uns der Unterstützung von über 1 Million Österreicherinnen und Österreichern.
Wir sind in unserer Gesellschaft stark verankert und wir haben ständig ein Ohr für die Sorgen unserer Bevölkerung. Es geht um Teuerung, Existenzsorgen und wirkliche Armut. Um Parallelgesellschaften und Brennpunktschulen, um Kriminalität und Kriegsängste. Das wird gerne bagatellisiert, um nicht – wie es heißt – „das Narrativ der Populisten zu bedienen“. Wenn aber die liberale Demokratie die Probleme der Menschen de facto nicht löst, dann suchen sie sich eben Alternativen.
Die Grundbedürfnisse der Menschen sind überall sehr ähnlich. Wenn sie sich bedroht fühlen, dann suchen sie Schutz in der eigenen Gruppe. Und Führungspersönlichkeiten, die ihnen sagen: „Mit uns wird es dir gut gehen. Bei uns bist du in Sicherheit.“ Was antwortet die Demokratie darauf? Offenbar muss sie sich immer wieder aufs Neue beweisen. Wie soll das gehen? Die gestern zu Grabe getragene Dr. Brigitte Bierlein, die ehrenamtlich unsere Grundsatzkommission leitete, hat dabei in ihrer ersten Rede als Kanzlerin ausgerechnet an unseren ersten Grundsatz erinnert:
„Wir alle haben unterschiedliche politische Einstellungen. Wir sind von unterschiedlicher ethnischer Herkunft, haben verschiedene religiöse Überzeugungen, Geschlechter oder sexuelle Orientierungen. Ja, wir sind verschieden. Für mich als Frau, als langjährige Juristin und Richterin gilt es, bei all diesen Unterschiedlichkeiten ein verbindendes Element zu beachten, nämlich die Menschlichkeit.“
Bis zum Ende dieses Jahres werden in über 75 Ländern der Welt Wahlen stattgefunden haben. Natürlich auch in Ländern, wo die Menschen in Wahrheit gar keine Wahl haben. Alle internationalen Studien zeigen: Die Demokratie ist auf dem Rückzug. Bei uns ist das noch anders. Wir haben noch eine echte Wahl.
Es ist aber auch schön zu wissen, dass es in unserer dynamischen Welt der Veränderungen auch Stabilisatoren gibt, auf die man sich verlassen kann. Dazu zählt das Rote Kreuz mit seinen Grundsätzen, die uns eine feste Orientierung geben und die dazu beitragen, dass wir die höchsten Vertrauenswerte in unserer Gesellschaft aufzuweisen haben.
Wer 144 wählt, weiß, dass verlässlich Hilfe kommt.
Dass wir heuer das 144. Jahr unseres Bestandes feiern, ist Anlass, daran zu erinnern, dass aus den Anfängen der 1880 gegründeten und rein militärischen Zwecken gewidmeten Hilfsorganisation inzwischen die größte humanitäre Institution geworden ist, die aus dem sozialen Leben Österreichs nicht mehr wegzudenken ist und die viele neue Aufgaben, auch an den oft sehr kalten Rändern unserer Gesellschaft, übernommen hat.
Lassen Sie mich abschließend ein sehr persönliches Wort des Dankes sagen: an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Generalsekretariat, die hervorragende Arbeit leisten.
Aber darüber hinaus an alle, die heute durch Sie bei unserer Generalversammlung repräsentiert werden und die in ganz Österreich dazu beitragen, dass das Rote Kreuz als ein hervorragendes Symbol der Humanität und der tätigen Hilfe anerkannt ist.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.