Wenige Wochen, nachdem im Februar 2022 der bewaffnete Konflikt in der Ukraine im zu eskalieren begann, übersiedelte Jürgen Högl als Katastrophenmanager nach Kiew. 13 Monate lang leitete er von der umkämpften Hauptstadt Kiew aus die Delegation der Österreichischen Roten Kreuz – mit jener Leidenschaft, die ihn schon sein ganzes Berufsleben lang antreibt: „Ich habe das riesige Glück, helfen zu dürfen!“ Besonders motivierend an Einsätzen in Krisengebieten wie der Ukraine findet er die Tatsache, dass er die Folgen seines persönlichen Engagements direkt sehen kann: „Du erkennst meist sehr schnell den Effekt, den dein Eingreifen auf andere Menschen hat.“
Freiwillig helfen, später studieren
Jürgen Högl, Jahrgang 1970, attestiert sich selbst eine „grundsätzlich positive Lebenseinstellung“. Erste Erfahrungen als Sanitäter konnte er schon beim Bundesheer sammeln: „Danach habe ich begonnen, mich beim Roten Kreuz als Freiwilliger im Rettungsdienst und beim Krankentransport nützlich zu machen.“ Das parallel begonnene Medizinstudium erwies sich hingegen als Irrweg: „Diese Art von Ausbildung war nicht das richtige für mich. Dafür bin ich immer intensiver in meine Arbeit beim Roten Kreuz hineingerutscht.“
Nachdem der gebürtige Niederösterreicher sein Studium endgültig abgebrochen hatte, engagierte er sich hauptberuflich beim Wiener Landesverband – „in einem kleinen Team im lokalen Katastrophenmanagement, der heutige Bundesrettungskommandant Gerry Foitik war mein erster Chef.“ Seinen Beruf, sagt er, hat er von der Pike auf gelernt: „Nachdem ich von der lokalen auf die nationale Ebene gewechselt bin und für Katastrophen in ganz Österreich zuständig war, habe ich beschlossen, meine akademische Karriere berufsbegleitend wieder aufzunehmen und habe in Wien Sicherheitsmanagement studiert und ‚Risk, Crises & Disaster Management‘ in England auf der University of Leicester.“
Entscheidungen über Leben und Tod
Jürgen Högl spricht mit leiser, unaufgeregter Stimme. Einen guten Katastrophenmanager, sagt er, zeichnet die Fähigkeit aus, sich binnen kürzester Zeit auf unerwartete Szenarien einstellen zu können: „Deine Arbeit ist nie Routine. Du hast unheimlich viele SOPs, also Standardvorgehensweisen, in der Schublade – und musst erkennen, wann diese Vorgaben und die Realität nicht mehr zusammenpassen. Dann ist es notwendig, spontan eine neue, bessere Lösung zu finden.“
Katastrophenmanagement ist für Jürgen Högl die hohe Kunst, aus dem Missverhältnis von Ressourcen und Bedarf das Bestmögliche herauszuholen: „Es ist Projektmanagement unter erschwerten Bedingungen: Du musst Entscheidungen unter enormen Zeitdruck treffen, obwohl du nie alle notwendigen Informationen hast. Aber du hast immer die Tatsache vor Augen, dass dein Handeln oder Nicht-Handen direkten Einfluss auf sehr viele Menschen haben. Oftmals geht es wirklich um Leben und Tod.“
Unterstützung für überlastetes System
In der Ukraine leitete Jürgen Högl bis zum Sommer 2023 ein Team aus zwölf internationalen Helfern, die direkt für das Österreichische Rote Kreuz gearbeitet haben, hinzu kamen rund 170 weitere lokale Kräfte. „Zu meinen Aufgaben hat die übergeordnete strategische Planung und die damit verbundene Beobachtung potenzieller Risikofaktoren ebenso gezählt wie die vielen operativen Details in der täglichen Arbeit.“ Konkret helfen konnte und kann die weiterhin im Krisengebiet stationierte rot-weiß-rote Delegation in jenen Bereichen, in denen sie traditionell umfangreiches Know-how einbringen kann, etwa im Gesundheitswesen, im Bereich der Betreuung von Binnen-Flüchtlingen und beim Hilfsgütermanagement.
Ein wesentlicher Beitrag, den das ÖRK in der Ukraine leisten konnte, lag im Aufbau sogenannter „mobile health units“, also mobiler Gesundheitsteams, erzählt Jürgen Högl: „Durch die Angriffe wurde nicht nur medizinische Infrastruktur zerstört, es fehlen auch überall Ärztinnen und Ärzte und Pflegepersonal.“ Das führt zu einer akuten Überlastung des Gesundheitssystems: „Wir haben rund 30 ärztliche Teams zusammengestellt, die mit gut ausgerüsteten Fahrzeugen von Siedlung zu Siedlung fahren und die Lücken in der Versorgung füllen.“
Hilfe für die vulnerabelsten Menschen
Ein weiterer Schwerpunkt ist die die Vorbereitung auf ausgesprochen strenge Winter: „Bei einem Raketeneinschlag zerbersten im Umkreis von rund 200 Metern alle Fensterscheiben, die Fenster selbst sind beschädigt. Wir installieren neue Fenster für betroffene Familien, die sich das selbst nicht leisten können, oder sanieren auch Risse in den Mauern. Außerdem haben wir tausende Schwedenöfen organisiert und verteilt, damit es zumindest einen warmen Raum in jedem Haus und jeder Wohnung gibt.“
Eine große Frage in der Logistik ist immer: „Wie kommt unsere Hilfe am effektivsten bei den Menschen an, die es am dringendsten brauchen?“ Davor steht noch die Entscheidung, nach welchen Kriterien überhaupt definiert wird, wer zu den vulnerabelsten und damit hilfsbedürftigsten Gruppen gezählt wird: „Das sind vor allem alte Menschen und Familien mit mehreren Kindern. In der Ukraine steigt aufgrund der Konfliktsituation leider in zunehmendem Ausmaß die Anzahl alleinerziehender Mütter oder Väter. Die Verluste auf dem Schlachtfeld sind gewaltig.“